Cringe

Cringe
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Cringe hat Konjunktur und ist mehr als Jugendslang. Ob in Comedy, Social Media oder Literatur – Cringe enth;llt die ambivalenten Grenzen zwischen Humor, Peinlichkeit und gesellschaftlichen Normen.

12. Januar 2025 Lesezeit ca. 8 Minuten
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Theresa Heyd
Theresa Heyd
Theresa Heyd ist seit April 2024 Inhaberin des Lehrstuhls f;r Englische Sprachwissenschaft an der Universit;t Heidelberg. Zuvor war sie Professorin f;r Englische Sprachwissenschaft und Dekanin der Philosophischen Fakult;t der Universit;t Greifswald. Neben der Kooperation mit Heide Volkening im Projekt Cringe der Volkswagen Stiftung arbeitet sie zu den Schwerpunkten Posthumane Soziolinguistik, Pronomen und Gender, sowie Digital Voice. Ihr aktuelles Buchprojekt Sociolinguistics of Digital Affect steht f;r das kommende Jahr bei Bloomsbury unter Vertrag.
Heide Volkening
Heide Volkening
Heide Volkening ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut f;r deutsche Philologie der Universit;t Greifswald und lehrt Literaturwissenschaft und Gender Studies. Gegenw;rtig arbeitet sie mit Theresa Heyd in dem von der Volkswagenstiftung gef;rderten Projekt "Cringe. ;sthetik und diskursive Praxis der Schamlust". Im Rahmen des vom BMBF gef;rderten interdisziplin;ren Projektes "Inklusive Exzellenz in der Medizin (InkE)" der Universit;t Greifswald besch;ftigt sie sich mit Gender als Wissenskategorie in medizinischen Diskursen.
„Gestern noch angesagte Dienste und Plattformen sind heute schon cringe.“ – „Normalerweise cringe ich mittlerweile immer ein bisschen, wenn ich mir was ;bersetztes angucke.“ – „Lachen bis zum Cringe.“ – „Keine F;;e bleiben still, wenn Niklas und Louis zu grooven beginnen (cringe).“ Diese Beispiele aus dem Webkorpus des Digitalen W;rterbuchs der Deutschen Sprache (www.dwds.de) best;tigen den ersten Eindruck: Cringe ist eine Vokabel der Gegenwart, und sie geh;rt im Deutschen seit Mitte der 2010er-Jahre zunehmend zum ;ffentlichen Sprachgebrauch. Sie begegnet uns als Adjektiv, als Nomen, als Verbform oder auch als nachgestellte Partikel (cringe!). Die Textbeispiele deuten bereits an, wo und in welchen Kontexten Cringe vorkommt. Denn alle Belege stammen aus dem Webkorpus und sind somit Blogs, Social Media und anderen digitalen Plattformen entnommen. Sie umkreisen alle mehr oder weniger explizit Aspekte von Popkultur und medialer Vermitteltheit – Comedy-Formate und ihre Rezeption, den Konsum von Serien, Partys, Popmusik.

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Im deutschsprachigen Raum wird oder wurde Cringe zun;chst mit Jugendsprache assoziiert und als Form von doing age verstanden, also insbesondere als Abgrenzungsmechanismus zwischen subjektiv empfundenen Alterskategorien oder Generationen. Als Cringe galt die Sprache der ;lteren, ihre Verhaltensweisen, Outfits, ihr Geschmack. Cringe ist in diesem Sinn eng verbunden mit einer anderen Vokabel, die aktuell einen Sprachwandel durchl;uft: die Sozialfigur des Boomers, die nun nicht mehr nur f;r eine bestimmte Geburtenkohorte steht, sondern mit schlechtem Geschmack und selbstbezogenen Verhalten assoziiert wird. Diese Assoziation mit sogenannter Jugendsprache ist beinahe untrennbar verbunden mit der intensiven Thematisierung des Ph;nomens, im Fall von Cringe ganz besonders durch die Wahl zum Jugendwort des Jahres 2021.

Die Vermarktung von Cringe als Begriff, die ;ber den Langenscheidt-Verlag als Ausrichtungssinstanz des Jugendwort-Verfahrens funktioniert, und auch die selbstironische Aneignung und Inszenierung von Cringe durch die Generation derer, die eigentlich gemeint ist, ist aus der Perspektive von Jugendlichen selbst schon cringe. Etwa in den intensiv stilisierten Performances der Nachrichtensprecherin Susanne Daubner, die die Jugendworte f;r die Tagesschau verliest. Oder in der zwischen 2020-2024 von Jan B;hmermann und Olli Schulz verwendeten Podcast-Marke #Boomercringe. Im Sprachgebrauch vieler Jugendlicher ist Cringe auch deshalb schon l;ngst wieder out.

Cringe: Wortgeschichte
So wie andere Vokabeln, die als Teil des jugendsprachlichen Repertoires markiert werden, markiert Cringe aber nicht nur eine Zone des Generationen-, sondern auch des Sprachkontakts. F;r das Englische l;sst sich die Sprachgeschichte von cringe weit in die Vergangenheit zur;ckverfolgen: Im Mittelenglischen findet sich ab dem 13. Jahrhundert die Verbform crengen, deren Vorl;ufer sich wiederum weit in das Altenglische und dar;ber hinaus in der protogermanischen Form kringana belegen lassen. Cringe hat etymologische Verwandtschaft mit dem deutschen krank, dem Schwedischen kr;nga (wenden, umst;lpen), aber auch mit onomatopoetischen Formen wie dem Englischen crinkle (knittern, knistern).

„Es geh;rt zum Reiz von Cringe, dass sich damit ein ambivalenter Affekt verbindet, der das Anregende mit dem Absto;enden und die Lust am Schauen mit der Peinlichkeit des Angeschauten vereint.“
Was die Bedeutungsgeschichte angeht, dominiert eine Semantik der Verk;rperung bis ins 19. Jahrhundert: to cringe hei;t, sich zu winden, sich zu kr;mmen, niederzuknien oder den Kopf zur;ckzuwerfen. Erst im 19. Jahrhundert ;bernimmt die abstrakte, metaphorische Semantik der affektiven Reaktion, sodass cringe zunehmend die Konnotation von Scham, Peinlichkeit und unangenehmer Ber;hrtheit gewinnt. Trotz dieser langen Wortgeschichte hat auch im Englischen cringe zuletzt einen (pop)kulturellen Aufschwung erlebt. Davon zeugt nicht zuletzt das erfolgreiche popul;rwissenschaftliche Buch Cringeworthy von Melissa Dahl aus dem Jahr 2018. Darin wird das diskursive Ph;nomen allerdings in erster Linie mit digitaler Praxis und nicht so sehr mit Jugendsprache assoziiert.

Der digitale Kontext ist auch f;r Cringe im deutschsprachigen Raum von zentraler Bedeutung und verschmilzt mit der ;ffentlichen Wahrnehmung als Begriff der Jugendsprache. In digitalen Kontexten funktioniert Cringe als Marker, mit dem Geschmacksgrenzen etabliert werden. Die dabei verwendeten semiotischen Ressourcen – Reaction Pics, Cringe-Emojis oder der Hashtag #cringe – liefern eindrucksvolles Material daf;r, wie die Verk;rperlichung von Cringe auch auf die sprachliche Konstruktion unserer digitalen K;rper ;bertragen wird. Dar;ber hinaus hat sich Cringe als konventionalisiertes Label zur Bezeichnung von ganz unterschiedlichen digitalen Praktiken etabliert. Das umfasst eine gro;e Bandbreite an spezifischen Genres, Stilen und Communities, von spielerischen Formen des digitalen Aktivismus wie etwa den Instagram-Account @heterocringe ;ber stark popularisierte Videoformate wie Try Not To Cringe Compilations (zun;chst auf YouTube und mittlerweile auf TikTok), aber auch marginalisierende Formen einer verletzenden Verlachkomik wie die sogenannte Cringe Culture, bei der es um die Stigmatisierung von User*innen bis hin zu justiziablen Formen des Cybermobbings geht.

Cringe-Komik als Schamlust
In den F;llen, in denen Cringe mit Komik verbunden ist, bezeichnet es nicht nur einfach Peinlichkeit oder ein schlicht unangenehmes Empfinden im Sinne von Fremdscham oder awkwardness. Im Gegenteil geh;rt es zum Reiz von Cringe, dass sich damit ein ambivalenter Affekt verbindet, der das Anregende mit dem Absto;enden und die Lust am Schauen mit der Peinlichkeit des Angeschauten vereint. Cringe ist Schamlust. Wir k;nnen nicht hin-, aber auch nicht so richtig wegschauen, wir lachen hinter vorgehaltener Hand. Cringe Comedy l;st „painful laughter“ aus, wie Wieland Schwanebeck formuliert.

In aktuellen Fernseh- und Streamingformaten hat sich seit einigen Jahren dieses Genre der Cringe Comedy als Bezeichnung f;r Situationskom;dien, dramedies und Kom;dien mit ;berwiegend satirischen Darstellungen peinlicher Figuren, Verhaltensweisen und Situationen etabliert. Deren Funktionsweise ist der Technik des verletzenden tendenzi;sen Witzes verwandt, wie Sigmund Freud sie beschrieben hat. Gesellschaftlich abweichendes, soziale Normen und moralischen Gemeinsinn verletzendes Verhalten cringer Figuren qu;lt und befreit die Zuschauenden zugleich. Als Klassiker des Genres gelten Larry Davids Curb Your Enthusiasm oder mockumentaries wie das britische und US-amerikanische The Office sowie dessen deutsche Adaption Stromberg. Historisch l;sst sich jedoch sicher bis in die 1960er und -70er Jahre zur;ckgehen zu Programmen wie das britische Till Death Us Do Part oder die WDR-Produktion Ein Herz und eine Seele. Die Tatsache, dass die ARD-Mediathek die ber;hmte Folge Silvesterpunsch inzwischen mit Content-Hinweis zeigt, weist darauf hin, dass sich zeitgleich mit dem Cringe-Diskurs auch die Wahrnehmung und Wertung verletzender Komik ge;ndert hat.

Mit Curb Your Enthusiasm ging im Fr;hjahr 2024 die ;ra der Cringe-Komik jedoch keineswegs zu Ende, wie die FAZ besorgt feststellte. Vielmehr l;sst sich gegenw;rtig eine Differenzierung des Feldes beobachten: Mockumentaries verlagern sich in Superm;rkte und TV-Produktionsfirmen, wie bei den aktuellen Serien Discounter und Player of Ibiza. Situationskom;dien und dramedies werden (post-)feministisch adaptiert in Serien wie Girls, Fleabag, I Love Dick oder Sexuell verf;gbar. Alle diese und einige weitere Formate loten Grenzen des Humors und Geschmacks genauso aus wie g;ngige Vorstellungen von Geschlecht und Sexualit;t. Sie verbinden die Affirmation von Selbstcringe mit der Ausstellung von Fremdcringe, das mitf;hlende Lachen ;ber vermeintliche eigene Fehler mit dem Auslachen von Hasenz;hnen, schlechten Frisuren oder maskulinistischen Imponiergesten anderer. Auch sie bewegen sich auf dem schmalen Grat der Schamlust zwischen Ressentiment, Stereotyp und Vorurteil auf der einen (‚dar;ber wird man wohl noch lachen d;rfen‘) und befreiender Affirmation von Scham und Peinlichkeit auf der anderen Seite (mit Taylor Swift gesprochen: „learn to live alongside cringe“).

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Cringe Comedy tritt genau mit den Themen in Erscheinung, anhand derer gesellschaftlicher Wandel besonders affektgeladen diskutiert wird: Geschlechter- und Klassenverh;ltnisse sowie rassifizierende Praxen. Die ;bertriebene Darstellung moralischen Fehlverhaltens in der Cringe Comedy entlastet vom Gewicht ethischer Fragen, die sich allt;glich in diesen Feldern stellen, ohne dabei die Relevanz der Themen und ihrer Bearbeitung zu verharmlosen. Wir sollen lachen, w;hrend wir uns winden. Erst durch das Erzeugen von Unwohlsein kommt es zum Genuss der Cringe Comedy.

Cringe und Literatur
Seit Kurzem ist von Cringe nun auch mit Blick auf Literatur und literarische Geschmacksgemeinschaften die Rede. Ob Rupi Kaur die Stimme einer Generation oder aber die queen of cringe sei, fragte Miski Omar im Fr;hjahr 2024 im Guardian. Rupi Kaur, so formuliert es auch Marie Ungar in ihren Notes on Cringe, „is one of the most Cringe writers writing today“. Die Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung der Autorin und ihrer (medialen) Inszenierung einerseits und Kaurs als „laughably bad“ (dis)qualifizierten Gedichten andererseits konstituiert dieses literarische Cringe-Ph;nomen als eines der Rezeption. ;hnliches kann f;r das Fandom m;nnlicher Autoren und ein positives Geschmacksurteil gelten. David Foster Wallaces Infinite Jest erscheint aus dieser Perspektive selbst weniger als Cringe als diejenigen, die ihn – empathisch emphatisch – vor sich hertragen und (nicht) lesen.

Though Wallace’s work risks Cringe in its gargantuan display of effort and sincerity, the reason references to Wallace are often met with rolled eyes has more to do with what the act of invoking his name conveys: ‘lit-bro shorthand’ synonymous with ‘is one of those motherfuckers,’ connoting an overly-inflated ego and masculine self-importance (Fischer).

Gegenwartsliteratur und ihre Rezeption, das wird in der kurzen Beispielliste deutlich, bewegt sich auch innerhalb digitaler Communities of Cringe.

Im Bereich der Literatur ist die Frage der Wirkungsabsicht schwerer zu beantworten und kann nicht so klar an der Reaktion des Lachens gemessen werden. ;hnlich wie die Komik in der Cringe Comedy zwischen Verlachen und Mitscham schwankt, schwankt literarischer Cringe zwischen Rezeptions- und Verfahrensebene. Dass sich Rezeptionsgemeinschaften ;ber Abgrenzung bilden, illustrieren die oben genannten Beispiele. Aber wie l;sst sich Cringe mit Blick auf Literatur als ;sthetische Kategorie der Gegenwart beschreiben?

Cringe konstituiert sich als Unentscheidbarkeit zwischen parodistischer Verzerrung und mimetischer Ernsthaftigkeit, zwischen „Analyse und bl;hende[m] Vortrag der eigenen Symptome“, zwischen buchst;blicher Naivit;t und ironischer Inszenierung, zwischen Figurenperspektive und Erz;hlstimme. Diese Ambivalenzen k;nnen auf sehr unterschiedliche Weise in Schl;sselromanen wie etwa Johanna Adorjans Journalismus-Satire Ciao, in Entwicklungsromanen wie Leif Randts Allegro Pastel, in Kurzprosa wie Barbi Markovi;s Minihorror  oder in autofiktionalen Reiseberichten wie Stefanie Sargnagels und Christiane R;singers Idaho beobachtet werden. Narrative von Scham und Schamlosigkeit, von eigener und fremder Peinlichkeit sind Anlass und Ausl;ser f;r Cringe als Verfahren der Gegenwartsliteratur.

Als sprachliche Erscheinung wird der popkulturelle Appeal von Cringe wieder abnehmen, so wie es anderen Begriffen davor geschehen ist. Erste Stimmen rufen zu seiner Verabschiedung auf. Ein Blick auf j;ngste und gegenw;rtige Register des Affektiven, des M;gens, des Gut- und Schlimmfindens zeigt jedoch, dass sie eine Art nachwachsende Ressource des digitalen Sprachgebrauchs und der kulturellen Selbstverst;ndigung sind. Und es mag kein Zufall sein, dass auch das frisch gek;rte Jugendwort des Jahres eine affektive Dimension der Wertzuschreibung bezeichnet – aura, das neue Cringe?

Cringe hat seinen kulturellen Moment, wo es um die (digitale) Aushandlung neuer gesellschaftlicher Standards geht. In dieser Zone der Aushandlung fungiert es sowohl als Kritik an als auch als Best;tigung f;r alte/n und neue/n Identit;ten, Praxen und Geschmacksurteile. Als Jugendwort impliziert cringe den Aufbruch ins Neue und das Ende des Alten, Cringe Comedy als Genrebegriff f;r audiovisuelle Formate verspricht wiederum eine komische Vers;hnung mit den Peinlichkeiten und M;hen sozialen Lebens, und der Literatur geht es wohl um eine Fortsetzung ;sthetischer Aufbr;che nach Pop.


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