Anschwellender Bocksgesang

Anschwellender Bocksgesang
07.02.1993, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 6/1993

Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Ohne Werbung lesen
Jemand, der vor der freien Gesellschaft, vor dem Gro;en und Ganzen, Scheu empfindet, nicht weil er sie heimlich verabscheute, sondern im Gegenteil, weil er eine zu gro;e Bewunderung f;r die ungeheuer komplizierten Abl;ufe und Passungen, f;r den grandiosen und empfindlichen Organismus des Miteinander hegt, den nicht der universellste K;nstler, nicht der begnadetste Herrscher ann;hernd erfinden oder dirigieren k;nnte. Jemand, der beinahe fassungslos vor Respekt mitansieht, wie die Menschen bei all ihrer Schlechtigkeit au fond so schwerelos aneinander vorbeikommen, und das ist so gut wie: miteinander umgehen k;nnen. Der in ihren Gesch;ften und Bewegungen ;berall die Balance, die Tanzbereitschaft, das Spiel, die listige Verstellung, die artistische Manier bemerkt - ja, dies Miteinander mu; jedem Au;enstehenden, wenn er nicht von einer politischen Krankheit befallen ist, weit eher als ein unfa;liches Kunstst;ck erscheinen denn als ein Brodelkessel, als eine »H;lle der anderen« . . .


Ohne Werbung lesen
Mitunter aber will es ihm scheinen, als h;rte er jetzt ein letztes knisterndes Sich-F;gen, als s;he er gerade noch die Letzten, denen die Flucht in ein Heim gelang, vern;hme ein leises Einschnappen, wie ein Schlo;, ins Gleichgewicht. Danach: nur noch das Rei;en von Str;ngen, gegebenen H;nden, Nerven, Kontrakten, Netzen und Tr;umen.

Welche Transformierbarkeit besitzt das Unsere, das Angerichtete noch? Allem Anschein nach keine mehr. Wir sind in die Best;ndigkeit des sich selbst korrigierenden Systems eingelaufen. Ob das noch Demokratie ist oder schon Demokratismus: ein kybernetisches Modell, ein wissenschaftlicher Diskurs, ein politisch-technischer Selbst;berwachungsverein, bleibe dahingestellt. Sicher ist, dieses Gebilde braucht immer wieder wie ein physischer Organismus den inneren und ;u;eren Druck von Gefahren, Risiken, sogar eine Periode von ernsthafter Schw;chung, um seine Kr;fte neu zu sammeln, die dazu tendieren, sich an tausenderlei Sekund;res zu verlieren. Es ist bislang konkurrenzlos, weder Totalitarismus noch Theokratie br;chten etwas Besseres zum Wohl der gr;;tm;glichen Zahl zustande als dieses System der abgezweckten Freiheiten.


Ohne Werbung lesen
Nat;rlich gilt das nur solange, wie wir davon ;berzeugt sind, da; allein der ;konomische Erfolg die Massen formt, bindet und erhellt. Nach Lage der Dinge d;mmert es manchem inzwischen, da; Gesellschaften, bei denen der ;konomismus nicht im Zentrum aller Antriebe steht, aufgrund ihrer geregelten, glaubensgest;tzten Bed;rfnisbeschr;nkung im Konfliktfall eine beachtliche St;rke oder gar ;berlegenheit zeigen werden.

Wenn wir Reichen nur um minimale Prozente an Reichtum verlieren, so zeitigt das in unserem reizbaren, nerv;sen Gef;ge nicht nur innenpolitische Folgen, sondern vor allem abrupte Folgen der politischen Innerlichkeit, den impulsiven Ausbruch von Unduldsamkeit und Aggression.


Ohne Werbung lesen
Wir warnen etwas zu selbstgef;llig vor den nationalistischen Str;mungen in den osteurop;ischen und mittelasiatischen Neu-Staaten. Da; jemand in Tadschikistan es als politischen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhalten, wie wir unsere Gew;sser, das verstehen wir nicht mehr. Da; ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und daf;r bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libert;ren Selbstbezogenheit f;r falsch und verwerflich.

Es ziehen aber Konflikte herauf, die sich nicht mehr ;konomisch befrieden lassen; bei denen es eine nachteilige Rolle spielen k;nnte, da; der reiche Westeurop;er sozusagen auch sittlich ;ber seine Verh;ltnisse gelebt hat, da hier das »Machbare« am wenigsten an eine Grenze stie;. Es ist gleichg;ltig, wie wir es bewerten, es wird schwer zu bek;mpfen sein: da; die alten Dinge nicht einfach ;berlebt und tot sind, da; der Mensch, der einzelne wie der Volkszugeh;rige, nicht einfach nur von heute ist. Zwischen den Kr;ften des Hergebrachten und denen des st;ndigen Fortbringens, Abservierens und Ausl;schens wird es Krieg geben.


Ohne Werbung lesen
Wir k;mpfen nur nach innen um das Unsere. Wir werden nicht zum Kampf herausgefordert durch feindliche Eroberer. Wir werden herausgefordert, uns Heerscharen von Vertriebenen und heimatlos Gewordenen gegen;ber mitleidvoll und hilfsbereit zu verhalten, wir sind per Gesetz zur G;te verpflichtet. Um dieses Gebot bis in die Seele der Menschen (nicht nur der W;hler und W;hlerinnen) zu versenken, bed;rfte es nachgerade einer Rechristianisierung unseres modernen egoistischen Heidentums. Da die Geschichte nicht aufgeh;rt hat, ihre tragischen Dispositionen zu treffen, kann niemand voraussehen, ob unsere Gewaltlosigkeit den Krieg nicht blo; auf unsere Kinder verschleppt.


Ohne Werbung lesen
Die Hypokrisie der ;ffentlichen Moral, die jederzeit tolerierte (wo nicht betrieb): die Verh;hnung des Eros, die Verh;hnung des Soldaten, die Verh;hnung von Kirche, Tradition und Autorit;t, sie darf sich nicht wundern, wenn ihre Worte in der Not kein Gewicht mehr haben. Aber in wessen Hand, in wessen Mund die Macht und das Sagen, die Schlimmeres von uns abwenden?

Es scheint undenkbar, da; jemand in den Verh;ltnissen, in denen er lebt, die letzte und beste Erf;llung des gesellschaftlich m;glichen Zusammenlebens erf;hrt. Wer verm;chte schon der Apologie der Schwebe, des Gerade-eben-Noch einen glaubw;rdigen Ausdruck zu verleihen?


Ohne Werbung lesen
Von ihrem Ursprung (in Hitler) an hat sich die deutsche Nachkriegs-Intelligenz darauf versteift, da; man sich nur der Schlechtigkeit der herrschenden Verh;ltnisse bewu;t sein kann; sie hat uns sogar zu den fragw;rdigsten Alternativen zu ;berreden gesucht und das radikal Gute und Andere in Form einer profanen Eschatologie angeboten. Diese ist mittlerweile so sturzartig in sich zusammengebrochen wie gewisse Sektenversprechen vom nahen Weltenende.

Der Liberale erscheint nicht mehr liberal durch sich selbst, sondern mehr und mehr als entschiedener, sich immer liberaler r;stender Gegner des Antiliberalismus: Er gilt f;r liberal, er hat sich als solcher Geltung verschafft, er ist - in seinem ;ffentlichen Amt - geltungss;chtig und wird folglich immer r;cksichtsloser liberal. Er ist ein st;ndig sich proklamierender, innerlich hochreizbarer, h;chst benachbarter Widersprecher des Antiliberalen.


Ohne Werbung lesen
Zuweilen sollte man pr;fen, was an der eigenen Toleranz echt und selbst;ndig ist und was sich davon dem verklemmten deutschen Selbstha; verdankt, der die Fremden willkommen hei;t, damit hier, in seinem verha;ten Vaterland, sich die Verh;ltnisse endlich zu jener ber;hmten ("faschistoiden") Kenntlichkeit entpuppen, wie es einst (und heimlich wohl bleibend) in der Verbrecher-Dialektik des linken Terrors hie;.

Intellektuelle sind freundlich zum Fremden, nicht um des Fremden willen, sondern weil sie grimmig sind gegen das Unsere und alles begr;;en, was es zerst;rt - wo solche Gem;tsverkehrung ruchbar wird, und in Latenz geschieht dies vielerorts, scheint sie geradezu bereit und begierig, einzurasten mit einer rechten Perversion, der brutalen Affirmation.


Ohne Werbung lesen
Selbstverst;ndlich mu; man grimmig sein d;rfen gegen den »Typus« des Deutschen als Repr;sentanten der Bev;lkerungsmehrheit. Die W;rde der bettelnden Zigeunerin sehe ich auf den ersten Blick. Nach der W;rde - ach, Leihfloskel vom F;rstenhof! - meines deformierten, vergn;gungsl;rmigen Landsmannes in der Gesamtheit seiner Anspruchsunversch;mtheit mu; ich lange, wenn nicht vergeblich suchen. Wie s;he, denke ich oft, mein protziger N;chster aus, wenn ihn der j;he Schmerz oder Kummer tr;fe? Vielleicht tr;te zum Vorschein dann seine W;rde. Man mu; sie doch wenigstens einmal gesehen haben, bevor man sie ins gesetzliche Glaubensbekenntnis aufnimmt.


Ohne Werbung lesen
Die meisten ;berzeugungstr;ger, die sich heute vernehmen lassen, scheinen ihren N;chsten ;berhaupt nur als den grell ausgeleuchteten Nachbarn in einer gemeinsamen Talkshow zu kennen. Sie haben offenbar das sinnliche Gesp;r - und das ist oft auch: ein sinnliches Widerstreben und Entsetzen - f;r die Fremdheit jedes anderen, auch der eigenen Landsleute, verloren.

Seltsam, wie man sich »links« nennen kann, da links von alters her als Synonym f;r das Fehlgehende gilt. Man heftet sich also ein Zeichen des Verhexten und Verkehrten an, weil man, voller Aufkl;rungshochmut, seine Politik auf den Beweis der Machtlosigkeit von magischen Ordnungsvorstellungen begr;ndet.


Ohne Werbung lesen
Rechts zu sein, nicht aus billiger ;berzeugung, aus gemeinen Absichten, sondern von ganzem Wesen, das ist, die ;bermacht einer Erinnerung zu erleben, die den Menschen ergreift, weniger den Staatsb;rger, die ihn vereinsamt und ersch;ttert inmitten der modernen, aufgekl;rten Verh;ltnisse, in denen er sein gew;hnliches Leben f;hrt. Diese Durchdrungenheit bedarf nicht der abscheulichen und l;cherlichen Maskerade einer h;ndischen Nachahmung, des Griffs in den Secondhandshop der Unheilsgeschichte.

Es handelt sich um einen anderen Akt der Auflehnung: gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgekl;rter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will. Anders als die linke, Heilsgeschichte parodierende Phantasie malt sich die rechte kein k;nftiges Weltreich aus, bedarf keiner Utopie, sondern sucht den Wiederanschlu; an die lange Zeit, die unbewegte, ist ihrem Wesen nach Tiefenerinnerung und insofern eine religi;se oder protopolitische Initiation. Sie ist immer und existentiell eine Phantasie des Verlustes und nicht der (irdischen) Verhei;ung. Eine Phantasie also des Dichters, von Homer bis H;lderlin.


Ohne Werbung lesen
Der Rechte in solchem Sinn ist vom Neonazi so weit entfernt wie der Fu;ballfreund vom Hooligan, ja mehr noch: Der Zerst;rer innerhalb seiner Interessensph;re wird ihm zum ;rgsten, erbittertsten Feind. (Freilich: D;rfen von uns verwahrloste Kinder zu unseren Feinden werden?)

Der Rechte - in der Richte: ein Au;enseiter. Das, was ihn zutiefst von der problematischen Welt trennt, ist ihr Mangel an Passion, ihre frevelhafte Selbstbezogenheit, ihre ebenso l;cherliche wie widerw;rtige Vergesellschaftung des Leidens und des Gl;ckens.

Es mag in Osteuropa geschehen, was will, bei uns ist links nach wie vor dort, wo sich die kulturelle Mehrheit befindet. Ohne gro;en Unterschied ist es die ;ffentliche Intelligenz, sind es die gewitzten und zerknirschten Gewissensw;chter, die ihren aufrechten Gang im wesentlichen nutzen, um zum n;chsten Mikrofon oder Podium zu schreiten, und die gegenw;rtig allesamt sich der erbitterten Anstrengung unterziehen, mit rationalen Mitteln eine Beschw;rung zu betreiben, als erstrebten sie, wenigstens f;r sich und ihre Rede, gerade jene magische und sakrale Autorit;t, die sie als aufrechte W;chter aufs sch;rfste bek;mpfen.


Ohne Werbung lesen
Die Modernit;t wird nicht mit ihren sanften postmodernen Ausl;ufern beendet, sondern abbrechen mit einem Kulturschock. Der Kulturschock, der nicht die Wilden trifft, sondern die verw;stet Verge;lichen.

Das jetzt vernehmbare Rumoren, die negative Sensibilit;t der feindlichen Reaktionen, die sofort Tollheiten des Hasses werden, sind seismische Vorzeichen, Antizipationen einer gr;;eren Bedr;ngnis, die sich durch jene ank;ndigt, die sie am ;rgsten sp;ren werden. Das »Deutsche«, das sie meinen, ist nur ein Codewort, darin verschl;sselt: die weltgeschichtliche Turbulenz, der sph;rische Druck von Machtlosigkeit, die parricide-antiparricide Aufwallung in der zweiten Generation, Tabuverletzung und Emanzipation in sp;ter Abfolge und unter umgekehrtem Vorzeichen, die Verunsicherung und Verschlechterung der n;heren Lebensumst;nde, die Heraufkunft der »teuren Zeit« im Sinne des Bibelworts; es ist der Terror des Vorgef;hls.

Nach Dezennien der kulturellen Gesamtveranstaltung Jugendlichkeit findet man nun vor eine ziemlich aufgezehrte Substanz von Jugend, die letzte Progenitur der Nachkriegszeit, deren ;berlieferungs- und Stimmungsgeschichte eine der Negationen und des Vaterhasses ist, h;;liche Frucht aus der Vereinigung eines verordneten mit einem libert;ren bis psychopathischen Antifaschismus.

Die Gesellschaft ist schuld! Die Erziehung hat versagt! h;rt man sie unger;hrt rufen im alten Stil, die Moderatoren. Wie blind und hilflos erscheinen jetzt die kritisch Aufgekl;rten, die keinen Sinn f;r Verh;ngnis besitzen, die die dynamische Verkettung von Emanzipationen im Generationenwechsel so lange begr;;ten, und jede aufst;ndische, revolution;re Potenz, bis sie, wie jetzt, ihren nackten, neutralen Kern entbl;;t: den brutalen Ha;.

Die Schamverletzungen, die die anarchofidele Erst-Jugend um 1968 herum beging, sind nun von rechts beerbt worden. Die neuen Jugendlichen tun zun;chst nichts anderes als die ihr vorausgegangene Generation - sich gro;tun, Initiation betreiben durch Tabuzertr;mmerung.

Die Verbrechen der Nazis sind jedoch so gewaltig, da; sie nicht durch moralische Scham oder andere b;rgerliche Empfindungen zu kompensieren sind. Sie stellen den Deutschen in die Ersch;tterung und belassen ihn dort, unter dem tremendum; ganz gleich, wohin er sein Zittern und Zetern wenden mag, eine ;ber das Menschenma; hinausgehende Schuld wird nicht von ein, zwei Generationen einfach »abgearbeitet«. Es handelt sich um ein Verh;ngnis in einer sakralen Dimension des Worts und nicht einfach um ein Tabu, das denen, die zum Schutz bestimmter zwischenmenschlicher Verkehrsformen oder der Intimsph;re dienen, vergleichbar w;re.

Daher handelt es sich auch bei den Sch;ndungen, die Neonazis jetzt begehen, im besonderen ihren antisemitischen Ausschreitungen, keineswegs um militante Akte der Gegenaufkl;rung. Diese, im strengen Sinn, wird immer die oberste H;terin des Unbefragbaren, des Tabus und der Scheu sein, deren Verletzung den Strategen der kritischen Entlarvung lange Zeit Programm war. Traurig macht es, da; man dies alles wei; und altes Weistum abweisbar ist.

Im Banne des Vorgef;hls. Man stelle sich vor eine Physik kleiner und kleinster D;monen, immaterielle Unheilsbetreiber, dann fl;gen jetzt ;berall Schw;rme von Amplifikatoren, Akzeleratoren, Pr;zipitatoren (Elemente einer sich ;berst;rzenden Entwicklung) herum. Etwa wenn der Moderator mit bleicher Entr;stung mitteilt, Deutschland drohe (wegen der Asylrechts;nderung) zum gr;;ten Deportationsland Europas zu werden. Wenn das keine Begriffssch;ndung ist . . .

;berhaupt ist pikant, wie gierig der Mainstream das rechtsradikale Rinnsal stetig zu vergr;;ern sucht, das Verp;nte immer wieder und noch einmal verp;nt, nur um offenbar immer neues Wasser in die Rinne zu leiten, denn man will's ja schwellen sehen, die Aufregung soll sich ja lohnen. Das vom Mainstream Mi;billigte wird von diesem gro;gezogen, aufgep;ppelt, bisweilen sogar eingekauft und ausgehalten. Das mediale Pokerface und die verzerrte Visage des Fremdenhassers bilden den politischen Januskopf - denn alles im Politischen l;;t sich seitenverkehrt in einem Kopf vereinen.

Unvereinbarkeit besteht heute im Grunde nur noch zwischen dem Reich, das die politisch-gesellschaftliche Hegemonie ;ber Geist, Moral, Wissenschaft und Glaube erstrebt, und, auf der anderen Seite, der entschiedenen Bestreitung solcher Hegemonialanspr;che. Es gibt gewisserma;en ein politisches Externum zur Bek;mpfung und Leugnung der Allmachtsanspr;che des Politischen. Eine geistige Reserve, die im Namen der Weisheit der V;lker, im Namen Shakespeares, im Namen der Rangabwertung von Weltlichkeit, im Namen der Verbesserung der menschlichen Leidenskraft gegen die politischen Relativierungen von Existenz ficht.

Von der Gestalt der k;nftigen Trag;die wissen wir nichts. Wir h;ren nur den lauter werdenden Mysterienl;rm, den Bocksgesang in der Tiefe unseres Handelns. Die Opferges;nge, die im Inneren des Angerichteten schwellen. Die Trag;die gab ein Ma; zum Erfahren des Unheils wie auch dazu, es ertragen zu lernen. Sie schlo; die M;glichkeit aus, es zu leugnen, es zu politisieren oder gesellschaftlich zu entsorgen. Denn es ist Unheil wie eh und je; die es trifft, haben nur die Arten gewechselt, es wahrzunehmen, es anzunehmen, es zu nennen mit abget;nten Namen.

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind »gefallene« Kultleidenschaften, die urspr;nglich einen sakralen, ordnungsstiftenden Sinn hatten.

In »Das Heilige und die Gewalt« schreibt Rene Girard: »Der Ritus ist die Wiederholung eines ersten spontanen Lynchmordes, in dessen Folge in der Gemeinschaft wieder Ordnung herrschte . . .« Der Fremde, der Vor;berziehende wird ergriffen und gesteinigt, wenn die Stadt in Aufruhr ist. Der S;ndenbock als Opfer der Gr;ndungsgewalt ist jedoch niemals lediglich ein Objekt des Hasses, sondern ebenso ein Gesch;pf der Verehrung: Er sammelt den einm;tigen Ha; aller in sich auf, um die Gemeinschaft davon zu befreien. Er ist ein metabolisches Gef;;.

Anderswo ;bernimmt diese Dynamik des Heils der Stammesherrscher, der K;nig: Er inkorporiert die Macht der Finsternis, zieht alles ;bel auf sich, um es dann in Stabilit;t und Fruchtbarkeit zu wandeln. Der Herrscher ;bernimmt die Funktion des kultischen Opfers. (Entsprechend h;tte etwa der linke Terrorismus seine Rolle im play of kingship gespielt, da er seinen Ha; ausschlie;lich gegen die Herrschenden richtete und sein Opfer aus ihren Reihen w;hlte. Er hat damit nicht f;r gr;;ere Unordnung in der Volksgemeinschaft, sondern im Gegenteil f;r die beinahe einm;tige Bekr;ftigung der bestehenden Ordnung gesorgt. Bei der rechten Gewalt, die vom »feigen Mord« mit elektronischer Fernsteuerung zur;ckgeht zum Lynchmord, der Zerrei;ung unter dem L;rmgott, besteht die Gefahr, da; sie nicht einmal die negative Einm;tigkeit stiftet in der Ablehnung der Greuel und da; aus dem Weh kein Wohl entspringt. Wir f;rchten es, wir wollen es mit aller verbliebenen Macht verhindern und haben doch kein sicheres Mittel zur Abwehr, wenn in unsere abstrakte Welt Bromios, der laute Schrecken, einschl;gt und das angeblich so wirklichkeitsbezwingende Gef;ge von Simulacren und Simulatoren von einem Tag zum anderen ins Wanken ger;t. Die Wirklichkeit blutet wirklich jetzt.)

Der Kulturpessimist h;lt Zerst;rung f;r unvermeidlich. Der Rechte hofft hingegen auf einen tiefgreifenden, unter den Gefahren geborenen Wechsel der Mentalit;t, auf die endg;ltige Verabschiedung eines nun hundertj;hrigen »devotionsfeindlichen Kulturbegriffs« (Hugo Ball), der im Gefolge Nietzsches unseren geistigen Lebensraum mit unz;hligen Sp;ttern, Atheisten und frivolen Insurgenten ;berv;lkert und eine eigene bigotte Fr;mmigkeit des Politischen, des Kritischen und All-Bestreitbaren geschaffen hat.

Da; es so nicht weitergehen kann, haben zuerst die ;kologen eindrucksvoll herausgerufen und es mit einigem Erfolg uns ins Bewu;tsein gesch;rft. Das Limit-Diktum lie;e sich ;bersetzen ins Politische, Sittliche und gewi; auch Sozial;konomische. Die Grenzen der Freiheit und der Erlaubnis scheinen im Angerichteten deutlich hervorzutreten.

Wir haben unser Bestes zur St;rkung des Systems und zum Ausgleich der Kr;fte gegeben. Setzt dieses aus oder wird empfindlich gest;rt, so stehen wir selbst ohne eigene St;rke da. Weder der einzelne noch die Menge unterhalten die geringste Verbindung zu Prinzipien der Entbehrung und des Dienstes oder zu anderen sogenannten preu;ischen Tugenden, die sich ein Hitler noch nutzbar machte. Eher w;rde diese Republik mit einem Wimmern enden (und hinter einer ;hnlichen, scheinbaren verschwinden) als mit dem gro;en Knall, der Resurrektion des F;hrers. Es wird vermutlich so sein, da; die niedergehende Gesellschaft, ohne ihr System aufzugeben, in die H;nde einer systemkonform arbeitenden Schattengesellschaft f;llt. Da; hinter den schwachen Drahtziehern dann st;rkere Drahtzieher auftauchen und diese in ihre Z;ge nehmen.

Wenn man bedenkt, wie schnell der Feuerball der Narreteien w;chst und sich dem kleinen Planeten des Geistes n;hert. Vielleicht morgen schon hat er uns alle ausgebrannt, und nur das Mundwerk l;uft weiter munter vor sich hin, wir merken's nicht einmal mehr, jeder bereits ein Unterhaltungsschreck, ein Gespenst des Infotainments. Vielleicht rast er aber auch an uns vorbei.

Der Abgesonderte war immer und st;ndig von den Gewalten des Bl;dsinns, die in seiner Zeit entfesselt waren, umgeben und bedr;ngt. Heute sind die Kr;fte nur appellativer geworden, es schallt aus allen Ecken - doch gibt es noch gen;gend schallfreie. Die ganze Ver;nderung liegt im Grunde darin, da; die Werbung, mit der das Unwesentliche f;r sich zu interessieren sucht, so bedeutende Fortschritte an Raffinement und Plazierung gemacht hat.

Der Au;enseiter-Heros wird aber heute und k;nftig andere Z;ge tragen als der verdiente poete maudit oder libert;re Rebell, schon deshalb, weil es erstens keine B;rger-Philister mehr gibt, die man erschrecken k;nnte, und weil zweitens dem Medienb;rger jeder nur erdenkliche Schrecken zu seiner Unterhaltung dient. Das Verbotene kann man suchen wie das Magische - schwer zu finden dort, wo man es bereits einmal fand.

Immer wieder die (armselige) Hoffnung, da; die Str;mung einen gro;en Bogen nehme und die erstickende, satte Konvention des intellektuellen Protestantismus (das einzige geistige Originalerzeugnis der Bundesrepublik) hinter sich lasse. Da; ein Satz, den angeblich Max Frisch zu einem Kollegen gesagt hat - »Werde im Alter nicht weise, sondern bleibe zornig« -, als der Gemeinplatz kritischer Bequemlichkeit erkannt wird, der er in Wahrheit ist. Was mu; ein Mensch auf sich nehmen, um weise zu werden! Was darf er alles au;er acht lassen, um seinen Zorn zu konservieren!

Der Leitbild-Wechsel, der l;ngst f;llig w;re, wird niemals stattfinden. Zum Sturz des faulen Befreiungszaubers, des subversiven Gem;tskitsches wird es nicht kommen. Das alles geht ;ber in eine endlose Prolongation durch technische Wiederaufbereitung.

Dabei: so viele wunderbare Dichter, die noch zu lesen sind - so viel Stoff und Vorbildlichkeit f;r einen jungen Menschen, um ein Einzelg;nger zu werden. Man mu; nur w;hlen k;nnen; das einzige, was man braucht, ist der Mut zur Sezession, zur Abkehr vom Mainstream. Ich bin davon ;berzeugt, da; die magischen Orte der Absonderung, da; ein versprengtes H;uflein von inspirierten Nichteinverstandenen f;r den Erhalt des allgemeinen Verst;ndigungssystems unerl;;lich ist. Nicht zuletzt deshalb steht man jetzt vor einer gigantischen Masse an Indifferenz unter den Jugendlichen, weil die politisierte Gesellschaft sich ausschlie;lich mit korporierten Minderheiten besch;ftigt hat und keinerlei Pr;gemuster f;r den Einzelg;nger zur Verf;gung stellte.

Diejenigen, die zu meiner Zeit das Zeug zum Au;enseiter besa;en, fanden sich schnell zusammen im gerichteten Strom, auch wenn dieser von einer »anderen Akzeptanz« getragen wurde, als sie die Mehrheit der Normalb;rger aufbrachte. Dann war es eben der kollektive Befindlichkeitsstrom der Rock- oder Underground-Szene, des politischen Anarchismus etc. Heute benutzen Majorit;t und Minderheit, gleich welcher Sparte, durchweg dasselbe konforme Vokabular der Emp;rungen und Bed;rfnisse.

Dem gegen;ber werden sich strengere Formen der Abweichung und der Unterbrechung als n;tig erweisen; man wird sich daran erinnern, da; in verschw;tzten Zeiten, in Zeiten der sprachlichen Machtlosigkeit, die Sprache neuer Schutzzonen bedarf; und w;r's allein im Garten der Befreundeten, wo noch etwas ;berlieferbares gedeiht, hortus conclusus, der nur wenigen zug;nglich ist und aus dem nichts herausdringt, was f;r die Masse von Wert w;re. Tolerante Mi;achtung der Mehrheit. Es ist v;llig gleichg;ltig, was in Dutzenden Kan;len ausgestrahlt wird, wenn einmal die Str;nge der Vermittlung gekappt sind. Es bedarf keiner Beschwerde, keiner Klage mehr.

Sie treten den Gedanken breit, den wir nur eben vorbeihuschen lie;en, sie machen zum Schema und f;llen die Sendezeit mit Fragen, die sie sich niemals selber stellten, die Kommentatoren, die Debattanten, die Infotainer. Sie nehmen sogar R;tsel und Hieroglyphe auf in ihre seichte, nach allen Seiten hin durchschaubare Sprache, die Vermittler, die Weltmoderatmacher. Die Schande der modernen Welt ist nicht die F;lle ihrer Trag;dien, darin unterscheidet sie sich kaum von fr;heren Welten, sondern allein das unerh;rte Moderieren, das unmenschliche Abm;;igen der Trag;dien in der Vermittlung.

Aber die Sinne lassen sich nur bet;uben, nicht abt;ten. Irgendwann wird es zu einem gewaltigen Ausbruch gegen den Sinnenbetrug kommen. Wenn man nur nicht mehr von »Medien« spr;che, sondern von einem elektronischen Schaugewerbe, das seinem Publikum die Welt in dem ;u;ersten Illusionismus, der ;berhaupt m;glich ist, vorf;hrte. Aber eines Tages gesch;he es eben, ;ber Nacht, wie in einer universellen Mutation, da; die Seher allesamt des Sinnenglaubens verlustig gingen vor dem Fernsehschirm, und dort w;rden noch fortgesetzt die seri;sesten Anstrengungen unternommen, um das Publikum wieder einzufangen, es erneut zu illusionieren, einzupegeln auf die moderierten Frequenzen. Doch sie werden nicht mehr empfangen. Das Weltschaugewerbe wirkt auf einmal wie ein verstaubter Zirkus, hat auf einen Schlag alle suggestive, realit;tszersplitternde Macht verloren. Die in den K;sten werben und werben noch, geradezu mit todes;ngstlicher Anstrengung - doch das Publikum l;chelt unerbittlich und milde zugleich: es glaubt einen anderen Glauben.

Die Intelligenz der Massen hat ihren S;ttigungsgrad erreicht. Unwahrscheinlich, da; sie noch weiter fortschreitet, sich transzendiert und 10 Millionen RTL-Zuschauer zu Heideggerianern w;rden. Hellesein ist die Borniertheit unserer Tage. Die High-Touch-Intelligenz, alle immer miteinander in Tuchf;hlung, unterscheidet nicht mehr zwischen Fu;volk und Anf;hrern. Was einmal die dumpfe Masse war, ist heute die dumpfe aufgekl;rte Masse.

Ich sehe zwischen einem Schau-Gespr;ch und einem Schau-Proze; nur graduelle Unterschiede in der Vorf;hrung von Denunzierten. Wer sich bei einer privaten Unterhaltung von Millionen Unbeteiligter begaffen l;;t, verletzt die W;rde und das Wunder des Zwiegespr;chs, der Rede von Angesicht zu Angesicht und sollte mit einem lebenslangen Entzug der Intimsph;re bestraft werden. Das Regime der telekratischen ;ffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte. Es braucht keine K;pfe rollen zu lassen, es macht sie ;berfl;ssig. Es kennt keine Untertanen und keine Feinde. Es kennt nur Mitwirkende, Systemkonforme. Folglich merkt niemand mehr, da; die Macht des Einverst;ndnisses ihn mi;braucht, ausbeutet, bis zur Menschenunkenntlichkeit verst;mmelt.

Es herrscht der Drill des Vor;bergehenden, gegen den keine Instanz der Erde sich noch auflehnen kann. Dieser wird im wesentlichen mit »Schnitten« erm;glicht; aber die Schnitte haben entgegen dem Wortsinn nichts Trennendes, sie bringen es vielmehr zustande, da; eine unendliche Kette der Ber;hrungen entsteht, da; letztlich alles mit allem in Ber;hrung ger;t.

Auch das Mi;verst;ndnis, sogar das Mi;verst;ndnis wird einem menschlich teuer - es ist nahezu aufgel;st im Verkehr der ;ffentlichen Meinung. Jeder Meinende versteht den anders Meinenden. Da gibt es nichts zu deuten. Die ;ffentlichkeit fa;t zusammen, sie moduliert die einander widrigsten Frequenzen - zu einem Verstehensger;usch.

Das Mi;verst;ndliche wird um so mehr zum Privileg des Kunstwerks, das Deutung fordert und nichts meint.

Ich habe keinen Zweifel, da; Autorit;t, Meistertum eine h;here Entfaltung des Individuums bef;rdert bei all denen, die sich zu verpflichten imstande sind, als jede Form der zu fr;hen leichtgemachten Emanzipation. Die herrenlose (und widerstandslose) Erziehung ist f;r niemanden gut gewesen, sie hat nur eine Vermehrung der Gleichg;ltigkeit hervorgebracht, eine jugendliche M;digkeit.

Es ist schade, ganz einfach schade um die verdorbene ;berlieferung. Ja, sie verdirbt drau;en vor den Toren wie eine Fracht kostbarer Nahrung, auf die die Bev;lkerung wegen irgendwelcher Zollstreitigkeiten verzichten mu;. Die ;berlieferung verendet vor den Schranken einer hybriden ;bersch;tzung von Zeitgenossenschaft, verendet vor der politisierten Unwissenheit jener f;r ein bis zwei Generationen zugestopfter Erziehungs- und Bildungsst;tten, Horste der finstersten Aufkl;rung, die sich in einem ewig ambivalenten Lock- und Abwehrkampf gegen die Gespenster einer Geschichtswiederholung befinden: »Wehret den Anf;ngen!« . . . Ach! Setzt selber einen brauchbaren!

Es ist ;berhaupt keine Frage, da; man gl;cklich und verzweifelt, ergriffen und erhellt leben kann wie eh und je, freilich nur au;erhalb des herrschenden Kulturbegriffs. Was sich st;rken mu;, ist das Gesonderte. Das Allgemeine ist m;chtig und schw;chlich zugleich. Der Widerstand ist heute schwerer zu haben, der Konformismus ist intelligent, facettenreich, heimt;ckischer und gefr;;iger als vordem, das Gutgemeinte gemeiner als der offene Bl;dsinn, gegen den man fr;her Opposition oder Abkehr zeigte.

Wenn man nur aufh;rte, von »Kultur« zu sprechen, und endlich kategorisch unterschiede, was die Massen bei Laune h;lt, von dem, was den Versprengten (die nicht einmal eine Gemeinschaft bilden) geh;rt, und das beides voneinander durch den einfachen Begriff der Kloake, des TV-Kanals f;r immer getrennt ist . . . Wenn man zumindest beachtete, da; hier nicht das gemeinsame Schicksal einer Kultur mehr vorliegt - man h;tte sich einer unz;hlige Zeitungsseiten f;llenden »kulturkritischen« Sorge endlich entledigt.

Demokratie braucht wie ein Organismus den Druck von Gefahr

Rechte Phantasie ist die Phantasie des Dichters

Der Mainstream macht das rechtsradikale Rinnsal gro;

In verschw;tzten Zeiten bedarf die Sprache neuer Schutzzonen

Heute ist das Gutgemeinte gemeiner als der offene Bl;dsinn


Рецензии