Sprichwoerter koennen in die Irre fuehren

Tr;gerische S;tze
Sprichw;rter k;nnen in die Irre f;hren
Ein Bodenmosaik in Neuruppin mit dem Sinnspruch "Jedermann ist seines Gl;ckes Schmied"
F;r unsere Autorin steht dieser Spruch auf Platz zwei der abgelebtesten Sprichw;rter. © IMAGO / imagebroker
;berlegungen von Kerstin Hensel | 08.11.2024
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„Morgenstund hat Gold im Mund“ oder „Wer rastet, der rostet“: Ob sie einem gefallen oder nicht: Sprichw;rter sind aus dem Sprachgebrauch nicht wegzudenken. Doch einige von ihnen sind ziemlich tr;gerisch, findet die Schriftstellerin Kerstin Hensel.
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Es gibt Situationen, da helfen Sprichw;rter unser nicht immer gradlinig verlaufendes Dasein besser zu verstehen. Vor Jahrhunderten sind diese knapp, treffend und bildhaft formulierten Lebensweisheiten dem Volksgeist entsprungen, und noch heute bieten sie sich als Schablone bestimmter sozialer und gesellschaftlicher Erfahrungen an.
Im Deutschen gibt es ;ber 250.000 Sprichw;rter und Redewendungen. Sie geh;ren in die Schatzkiste unserer Sprache. Zweifellos steckt in Sprichw;rtern Wahrheit, doch da auch Phrasenhaftes und Anachronistisches an ihnen haftet, kehrt sich zeitbedingt manche Wahrheit nach au;en.
Zum Beispiel die oft mit erhobenem Erzieherzeigefinger ausgessto;ene Drohung: „Wer einmal l;gt, dem glaubt man nicht!“ Kein anderes Sprichwort tr;gt solch hohes Fehlerpotenzial in sich, denn keiner kann leugnen: Jeder von uns l;gt und hat dies schon als Kind getan. Kleine L;gen geh;ren zum Fundament menschlicher Gesellschaft, auch wenn P;dagogen und Aufrichtigkeitsfanatiker solches bestreiten.
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Die gro;en Falschredner allerdings – seien es Hochstapler, Heilsversprecher, Staatenlenker oder Demagogen – k;nnen die Welt in den Abgrund st;rzen. Und weswegen? Weil so viele Leute deren L;gen glauben. Weil sie, Generation um Generation, ;belsten Unwahrheiten aufsitzen, und das voller Inbrunst. „L;gen haben kurze Beine“? Nein, sie sind Langstreckenl;ufer, leider.
Das Unbehagen an der Spruchweisheit
Auf Platz zwei der abgelebten Sprichw;rter steht bei mir „Jeder ist seines Gl;ckes Schmied“. Unverbl;mt hei;t das: Jeder ist f;r sein eigenes Gl;ck verantwortlich. Das gilt allerdings nur, wenn Menschen unter gleichen Bedingungen leben und die Bedingungen so sind, dass ein gl;cklicher Zustand ;berhaupt realisierbar ist. Die arm- und unwissend Gehaltenen dieser Erde, die heillos Kranken, Bekriegten und an den Rand Gestellten k;nnen oft schmieden wie sie wollen – Fortuna wird sie nicht mit dem Hintern angucken.
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Unbehaglich wird mir auch, wenn der Spr;cheklopfer t;nt: „Angriff ist die beste Verteidigung“. Parolen aus der Kriegsf;hrung stehen bei mir generell nicht hoch im Kurs, und ich glaube nicht, dass Vorw;rtsverteidigung immer Entspannung bringt. Es ist bewiesen und auch heute vielerorts sichtbar: Vernichtung zieht Vernichtung nach sich. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, lautet ein der Bibel entlehntes sprichwortverd;chtiges Zitat. In pers;nlichen Situationen m;gen offensive Verbalattacken helfen; wird hingegen in der Liga der Machthaber der „Angriff“ als einziges Mittel zur Konfliktl;sung erwogen, ziehe ich mein Einverst;ndnis f;r dieses Sprichwort zur;ck.
Mit leerem Hirn wird alles gut?
R;ckzug allerdings ist auch nicht immer das – Zitat – „Gelbe vom Ei“. Dem Spruch „Aus den Augen, aus dem Sinn“ kann nur jemand glauben, der sich der Wunschvorstellung anheimgibt, etwas, das ich nicht mehr sehe, f;llt auch aus meinen Gedanken. Aus dieser Naivit;t heraus schaffen bewusstseinserwachte Menschen Ma;regeln wie: Deckt Garstiges, Schlechtes und Widerspenstiges zu! Verbietet alles, was unser Ged;chtnis belastet! Wenn wir das B;se nicht mehr sehen und h;ren, brauchen wir auch keine Philosophen, K;nstler, Psychologen oder Traumatherapeuten mehr. Mit leerem Hirn wird n;mlich alles gut.
Ebenfalls fragw;rdig ist das Sprichwort, das als Banner in meiner Kindheitswohnstube hing: „Trautes Heim, Gl;ck allein.“ Es zeugt nicht nur davon, dass die eigenen spie;igen vier W;nde als einzig Erstrebenswertes favorisiert werden, sondern auch von der Angst vor Fremden, vor Weltoffenheit als solcher. Nein, abgelehnt!
Und ist es wirklich so, dass, wer A sagt, auch B sagen muss? Keinesfalls. Er kann – wie Brecht schreibt – auch erkennen, dass A falsch war.
Kerstin Hensel, Jahrgang 1961, ist Professorin f;r Poetik an der Hochschule f;r Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Sie hat zahlreiche Gedichte, Romane und Essays geschrieben. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Die Gl;ckshaut“ (Quintus Verlag 2024).


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