Diktatur der Mehrheit

09-01-24

Landtagswahlen im Osten
:Diktatur der Mehrheit
AfD und BSW streben einen starken, autorit;ren Staat an, der durchgreift. Das spricht viele Menschen im Osten an, denn das kennen sie aus der DDR.


Eine „Diktatur der Mehrheit“ konstatierte bereits John Stuart Mill als gro;e Gefahr der DemokratieFoto: Katja Gendikova

Die DDR ist mittlerweile bunt und pluralistisch wie nie zuvor. Fast t;glich erscheinen neue Publika­tio­nen, die eine faszinierende Gesellschaft malen. Der SED-Staat wird als Kulisse gezeichnet, um die sich die Gesellschaft anscheinend wenig gek;mmert hat. In Spielfilmen kommt meist eine lustige, sich behauptende Gemeinschaft vor, die den Staat verachtet und sich von diesem nicht unterkriegen l;sst. In den sozialen Medien gibt es unz;hlige Erinnerungsgruppen, in denen alles rosarot gezeichnet wird. Millionen schwelgen in Erinnerungen, die sie in eine Zeit zur;ckversetzen, die solidarisch, warm und vor allem eines war: sicher.

Wenn sich eine Mehrheit der Ostdeutschen an der Freiheitsrevolution 1989 gegen den SED-Staat beteiligt h;tte, m;sste man heute fragen, ob diese Mehrheit es bereut. Doch die Frage ist sinnlos, denn an der Freiheitsrevolution beteiligte sich nur eine Minderheit. Es ist eine Banalit;t: An Revolutionen beteiligen sich immer nur Minderheiten. Die gro;e Mehrheit wartet ab und schl;gt sich rasch und voller ;berzeugung auf die Seite der Sieger. Das war 1989 nicht anders. Als Anfang November 1989 klar war, wohin die Reise gehen w;rde, entschied sich die Mehrheit, nun auch gegen den Staat dabei zu sein. Millionen aber blieben ihm treu – das wird gern vergessen.

Die echten Revolution;re wollten Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Befreiten wollten volle Gesch;fte und die D-Mark. Das ist nicht verwerflich, ver;nderte aber die Gesch;ftsgrundlage. Der tiefste Einschnitt in der ostdeutschen Revolutionsgeschichte war nicht der Mauerfall am 9. November oder der Wahltag am 18. M;rz, sondern der 1. Juli 1990 – die Einf;hrung der D-Mark in der DDR, verbunden mit der ;bernahme der bundesdeutschen Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsordnung.

Was nun passierte, hatten die Befreiten nicht erwartet. Sie bauten Trabis und Wartburgs, wollten aber selbst VW und Mercedes fahren. Sie kauften ihre eigenen Produkte nicht mehr. Der im ­Osten bis heute weitverbreitete Hass auf die Treuhand – die nat;rlich viele Fehler machte – war schon immer eine Form von Selbsthass. Wer auf die schnelle Einf;hrung der D-Mark setzte – und das waren nun einmal etwa 80 Prozent der ­Menschen –, h;tte auch damit rechnen ­k;nnen, dass kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. ­Haben damit viele gerechnet? Die meisten glaubten wohl, an ihnen w;rde der Kelch vor;bergehen.

Ostdeutsche waren nicht nur Opfer
Den Einigungs- und Transformationsprozess begleiteten viele Fehler. Aber lief die Einigung so ab, wie es der Literaturprofessor Dirk Oschmann in seinem Wutseller „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ behauptet? Die Ostdeutschen nur als Opfer und Objekte der Geschichte? Nein, sie waren weder das eine noch das andere. Sie haben selbstbestimmt entschieden, dass das Westgeld so schnell wie m;glich kommt. Damals haben besonnene K;pfe davor gewarnt, die Folgen der schnellen Einf;hrung der D-Mark w;ren ­un;berschaubar und kaum beherrschbar. Das wollte kaum jemand h;ren. Im Osten galten die mahnenden Stimmen quasi als Kommunisten, im Westen wurden sie als vaterlandslose Gesellen abgetan, und gesamtdeutsch galten sie als Einheitsfeinde.

Die Masse der Ostdeutschen meinte 1990: „Helmut, nimm uns an die Hand, und f;hre uns ins Wunderland“

Die Ostler, die etwa aus der B;rgerbewegung kamen und vor der sofortigen Einf;hrung der D-Mark warnten, unterschieden sich in einem Punkt tats;chlich grundlegend von der Mehrheit der DDR-Menschen: Sie besa;en ein anderes Staatsverst;ndnis. Sie glaubten, dass Freiheit und Demokratie einen Staat ben;tigen, der die Einmischung in die eigenen Angelegenheiten nicht sanktioniert, sie hofften auf einen Staat, der nicht autorit;r, nicht paternalistisch ist.

Die Masse der Ostdeutschen aber meinte 1990: „Helmut, nimm uns an die Hand, und f;hre uns ins Wunderland.“ Sie wollten alles sofort. Und der Bundeskanzler? Kohl versprach, es genau so zu richten: bl;hende Landschaften in drei, f;nf, sieben Jahren. Woher sollte die Mehrheit der Ostdeutschen auch wissen, dass „­Vater Staat“ ein ­Konstrukt des 19. Jahrhunderts war und der Staat nicht zum Selbstzweck existiert, sondern die Rahmenbedingungen einer offenen Gesellschaft bietet? Die Westdeutschen mussten das nach 1945 auch erst m;hsam erlernen.

Demokratie und Freiheit sind keine hohlen und leeren Begriffe. Aber sie m;ssen erlernt werden, immer wieder neu. Doch in den Jahren nach 1990 gingen Ost- wie Westdeutsche davon aus, Freiheit und Demokratie seien selbsterkl;rend. Sind sie aber nicht. Und niemand brachte den Ostdeutschen nahe, dass das Leben in der Freiheit weitaus anstrengender ist als in der Diktatur. St;ndig muss man Entscheidungen treffen, „ich“ sagen, sich in seine Angelegenheiten einmischen. In der Diktatur ;bernimmt das alles der Staat. Die Regeln waren einfach und ;berschaubar: Tu einfach, was man dir sagt! Und „man“ ist der Staat.

Niemand bemerkte, dass die Mehrheit der Ostdeutschen nach 1990 genau dieses paternalistische Staatsverst;ndnis weiterhin pflegte. Es war nicht nur Helmut Kohl, der sich entsprechend aufspielte. Die ber;hmtesten Ministerpr;sidenten in Ostdeutschland nach 1990 – Kurt Biedenkopf in Sachsen, Bernhard Vogel in Th;ringen, Manfred Stolpe in Brandenburg – agierten genau nach dem gleichen Muster: als paternalistische Herrscher, die ihre Landes„kinder“ umsorgten.

Es war Uwe Johnson, der bereits 1970 klarsichtig anhand ostdeutscher Fl;chtlinge im Westen festhielt: Sie kamen in den Westen, und viele von ihnen redeten ;ber den SED-Staat, als handele es sich um einen Teil ihrer Familie. Dieser Essay von Uwe Johnson geh;rt zum Kl;gsten, was je ;ber Ostler im Westen geschrieben worden ist. Und er bleibt bis heute aktuell.

Autorit;re Staatsvorstellungen
Heute k;nnen wir beobachten – und das beobachten bislang kaum irgendwelche viel gefragten Beobachter –, dass grundlegende Unterschiede zwischen Ost und West vor allem darin bestehen, was vom Staat erwartet wird. Es gibt viele Differenzen zwischen Ost und West. Die wird es auch in vielen Jahren noch geben, und sie sind nicht einmal problematisch. Anders sieht es mit den staatspolitischen Vorstellungen aus. Im Osten ;berwiegen Staatsvorstellungen, die an autorit;re Modelle erinnern, an einen starken Staat. Das ist ein grunds;tzliches Problem – zumal sich solche Vorstellungen wie ein Virus auch im Westen Europas verbreiten.

Anzeige

Und genau an dieser Stelle setzen AfD und das B;ndnis Sahra Wagenknecht (BSW) an. Das eine oder andere mag beide Parteien voneinander unterscheiden, aber in einem zentralen Punkt sind sie sich einig: Sie erstreben einen starken, autorit;ren Staat, der die Gesellschaft einhegt, bevormundet und homogenisiert. Das sprechen die F;hrungsfiguren beider Str;mungen aus. Die AfD weitaus offener als das BSW, aber auch hier ben;tigt man nur Grundkenntnisse politologischer Theorien, um das dekodieren zu k;nnen. Und daher ist auch ihre N;he zu Russland oder China kein Zufall. AfD wie BSW streben das „Durchgreifen“ an, einen Staat, der sich an seinen eigenen Bed;rfnissen orientiert und nicht an denen der Gesellschaft.

Was dabei herauskommen wird? Das ist schwer einzusch;tzen. Wahrscheinlich eine „Diktatur der Mehrheit“, etwas, das John Stuart Mill oder ­Alexis de Tocqueville im 19. Jahrhundert bereits als eine sehr gro;e Gefahr der Demokratie konstatierten. Ein Blick nach Ostdeutschland k;nnte ein Blick in die Zukunft sein: Genau das droht hier n;mlich unter dem vermeintlichen Vorzeichen, die Demokratie retten zu wollen. Den meisten ist diese „Diktatur der Mehrheit“ gar nicht als Problem bewusst. Tats;chlich will im Osten nur eine winzige Minderheit die DDR zur;ckhaben, so, wie sie war.

Eine gr;;ere Minderheit sehnt sich nach einer DDR, wie sie erinnert wird, wie sie aber nie existiert hat. Die Mehrheit aber strebt einen Staat an, der stark und autorit;r die Angelegenheiten im Sinne des „gesunden Menschenverstands“ (Lieblingsformulierung von Populisten wie Extremisten jeder Couleur) regelt und allein den W;nschen einer Mehrheit seinen Dienst erweist, verbunden mit der Unterdr;ckung von Minderheitenpositionen.

Keine Konsensgesellschaft, sondern gelebte Freiheit
Es ist nicht ausgeschlossen, dass dies bald zu einer gesamtdeutschen und gesamteurop;ischen Realit;t werden k;nnte. Das w;re ein sp;ter Sieg der DDR – und ein mit un;bersehbaren Folgen verbundener f;r den Kreml. Die Freiheit l;sst sich nur in der Freiheit verraten – wir k;nnten gerade Zeugen davon sein. Noch ist es nicht zu sp;t, um nicht wie anderswo hautnah und schmerzhaft zu erfahren, dass Freiheit wichtiger als Frieden ist, weil es ohne Freiheit keinen inneren und keinen ;u;eren Frieden geben kann.

Wir brauchen keine Diktatur der Mehrheit, keine Konsensgesellschaft, sondern gelebte Freiheit und Demokratie. Und das ist die faire, demokratische Aushandlungsarena, die Kompromisse sucht. In dieser Arena unterstellen sich die Kontrahenten gegenseitig, das Beste f;r alle zu wollen; als politische Gegner lehnen sie zwar Mittel, Methoden und Ziele der anderen gegenseitig zum Teil ab, aber sie behandeln sich gleichrangig als demokratische Partner.

Im Osten hingegen vereinen AfD und BSW mittlerweile etwa 50 Prozent der Menschen hinter sich mit ihrer Feindideologie – die l;sst keine Kompromisse zu und strebt die v;llige Neuordnung an. Das erinnert ebenfalls an die DDR und den Kreml. Dagegen kann nur helfen, dass die Demokraten gemeinsam gegen die potenziellen Mehrheitsdiktatoren zusammenstehen und koalitionsf;hig bleiben.


Рецензии