Appeasement-Politik

Wegducken statt standhalten – die westlichen Demokratien ;ben sich erneut in Verhaltensmustern der Appeasement-Politik der dreissiger Jahre
Putins Angriffskrieg wie auch der Hamas-Terror haben den Westen auf dem falschen Fuss erwischt. Es gibt eine Tradition der Untersch;tzung totalit;rer Aggressoren, angesichts deren sich die Frage stellt, ob es einen strukturellen Hang von Demokratien zum Appeasement gibt.

Richard Herzinger
132 Kommentare
16.03.2024,
Sollte die Ukraine nach ;ber zwei Jahren heroischer Gegenwehr dem verst;rkten Angriffsdruck des russischen Aggressors nicht mehr standhalten k;nnen, w;re dies das katastrophale Resultat eines neuerlichen historischen Versagens der westlichen Demokratien – mit ;hnlich verheerenden Konsequenzen wie bei der Appeasement-Politik in den dreissiger Jahren.


Zwar hat der Westen seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die gesamte Ukraine erhebliche Anstrengungen unternommen, um das ;berfallene Land finanziell und mit milit;rischer Ausr;stung zu unterst;tzen. Doch hat er der Ukraine dringend ben;tigte Waffensysteme vorenthalten und ihr zugesagtes Kriegsger;t zu sp;t, in zu geringem Umfang oder gar nicht geliefert. So konnten sich die Invasoren nach anf;nglichen schweren R;ckschl;gen regenerieren und sich zu neuen Angriffswellen formieren.

Hinter diesem westlichen Vers;umnis steckte das falsche Kalk;l, die russische Aggressionsenergie werde sich angesichts des ukrainischen Widerstands ;ber kurz oder lang ersch;pfen und der Kreml werde sich dann kompromissbereit zeigen m;ssen. Diese Verkennung des wahren Ausmasses des russischen Vernichtungswillens hat eine lange, fatale Vorgeschichte. Sp;testens mit dem Beginn der Aggression Russlands gegen die Ukraine 2014 h;tte der Westen realisieren m;ssen, dass Putins Verbrecherstaat keiner Rationalit;t zug;nglich ist und daher weder ein wirtschaftlicher noch ein sicherheitspolitischer «Partner» sein kann. Doch weil dies nicht geschah, traf es die westlichen Staatenlenker weitgehend unvorbereitet, als der Kreml 2022 mit seinem genozidalen Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine tats;chlich Ernst machte.

Angst und Bewunderung
;hnlich ;berrumpelt zeigte sich die demokratische Welt von dem Massaker der Hamas am 7. Oktober, hinter dem die Islamische Republik Iran steht. Wie man die imperialen Weltneuordnungspl;ne der Moskauer Machthaber lange Zeit als leere propagandistische Rhetorik abgetan hat, so weigerte man sich insbesondere in Europa, die apokalyptisch-extremistische Ideologie und die Vernichtungsank;ndigungen des mit Moskau verb;ndeten Teheraner Regimes sowie seiner terroristischen Stellvertretertruppen gegen Israel beim Wort zu nehmen.


Damit fielen die westlichen Demokratien in Verhaltensmuster der Appeasement-Politik der dreissiger Jahre zur;ck. Wobei die Geschichte der Beschwichtigung und Anbiederung an aggressive autorit;re Regime nicht erst mit der Machtergreifung Hitlers begann. Schon die Diktatur Benito Mussolinis wurde in den westlichen Demokratien lange Zeit bis weit in die b;rgerliche Mitte hinein idealisiert – gespeist aus der Angst vor der kommunistischen Revolution, aber auch, weil betr;chtliche Teile der westlichen Eliten selbst mit einer autorit;ren L;sung der inneren Konflikte ihrer Gesellschaften lieb;ugelten.

Die Priorisierung des kurzfristigen ;konomischen Vorteils vor vermeintlich «weltfremder» demokratischer Moral erzeugt einen Werterelativismus.
Doch westliche Leisetreterei gab es nicht nur gegen;ber dem Faschismus und Nationalsozialismus – sie wurde schon fr;h auch gegen;ber der Sowjetunion praktiziert. Nachdem zuvor bereits Grossbritannien seine Beziehungen mit Moskau «normalisiert» hatte, wuchs in den USA Anfang der dreissiger Jahre der Druck einflussreicher Unternehmer auf die Regierung, den Weg f;r lukrative Handelsbeziehungen mit dem Sowjetstaat frei zu machen. Nur zu gerne glaubte man den Zusicherungen Stalins, er verfolge keine weltrevolution;ren Absichten mehr und w;nsche sich aufrichtig friedlichen Handel mit der kapitalistischen Welt.


Als der britische Journalist Gareth Jones die Wahrheit ;ber den Holodomor, den sowjetischen Hungermord in der Ukraine 1932/33, enth;llte, taten die Regierungen der grossen westlichen Demokratien dies als Greuelpropaganda ab, die den Prozess der Ann;herung an Moskau st;ren k;nnte. Das westliche Schweigen erm;glichte es der Sowjetf;hrung, dieses genozidale Verbrechen ;ber viele Jahrzehnte hinweg zu leugnen und zu vertuschen.

Angesichts dieser langen Tradition der Untersch;tzung und Besch;nigung totalit;rer Aggressoren stellt sich die Frage, ob es einen strukturellen Hang der Demokratien zum Appeasement gibt. In der Tat sind es eine Vielzahl von Faktoren, die liberale Gesellschaften f;r das Zur;ckweichen vor aggressiven autorit;ren M;chten und f;r die Selbstt;uschung ;ber deren wahre Absichten anf;llig machen.

Da sind zun;chst die Pr;missen einer freien Wirtschaft, zu deren Entfaltung es offener M;rkte und eines m;glichst uneingeschr;nkten Welthandels bedarf. Um autorit;re Aggressoren einzud;mmen, m;ssen jedoch Restriktionen in den Wirtschaftsbeziehungen, etwa durch Sanktionen, in Kauf genommen werden. So geraten, wie es scheint, die Bed;rfnisse des Marktes und die ethischen Maximen der Demokratie miteinander in Konflikt. Doch diese Entgegensetzung erweist sich bei n;herem Hinsehen als kurzschl;ssig. Denn Investitionen in Staaten mit Willk;rregimen k;nnen sich unversehens als Desaster erweisen – wie sich jetzt am weitgehenden Zusammenbruch des «Russlandgesch;fts» infolge des russischen Angriffskriegs gezeigt hat.

Verst;ndnis f;r die Henker
Die Priorisierung des kurzfristigen ;konomischen Vorteils vor vermeintlich «weltfremder» demokratischer Moral zieht h;ufig einen Werterelativismus nach sich, der postuliert, man d;rfe nichtwestlichen Kulturen nicht «unsere» normativen Massst;be «aufzwingen». Dieses scheinbar von Respekt vor kultureller Vielfalt zeugende Argument wird gerne von Wirtschaftsf;hrern vorgeschoben, wenn es ihnen in Wahrheit um ungehinderte Gesch;ftsbeziehungen mit Despotien geht.


Paradoxerweise findet sich dieser das Profitstreben camouflierende Kulturrelativismus spiegelbildlich bei Kr;ften wieder, die damit gegenteilige Motive verfolgen. Die selbstkritische Aufarbeitung der Verbrechen des europ;ischen Kolonialismus ist f;r die modernen westlichen Demokratien essenziell. Doch wenn linke Antikapitalisten und «Postkolonialisten» mit dem Hinweis auf vergangene westliche Verbrechen m;rderische Regime im sogenannten «globalen S;den» exkulpieren, stellen sie die Lehren aus der kolonialistischen Unterdr;ckung auf den Kopf.

Dabei gleicht diese Haltung verbl;ffend der f;hrender westlicher Politiker in den dreissiger Jahren gegen;ber NS-Deutschland. F;r den Revanchismus Hitlers brachten sie Verst;ndnis auf, da Deutschland durch den Versailler Vertrag tief «gedem;tigt» worden sei. In ;hnlicher Weise wird heute etwa die brutale imperialistische Politik des chinesischen Regimes dadurch in ein milderes Licht getaucht, dass man auf die einstige Dem;tigung Chinas durch die europ;ischen Kolonialm;chte verweist.

Eine weitere St;rke der liberalen Demokratien, die in der Konfrontation mit dem Autoritarismus zur Schwachstelle wird, ist ihre berechtigte Abscheu vor dem Krieg. Aus ihr folgt eine Neigung zum Pazifismus, der eigentlich die konsequente Schlussfolgerung aus der liberalen Vision ist, den Krieg als voraufkl;rerisches Relikt aus den zwischenstaatlichen Beziehungen zu verbannen. So ehrbar aber eine authentische pazifistische Haltung sein mag – durchhalten l;sst sie sich nur unter Ausblendung der Frage, wie man sich M;chten unbewaffnet erwehren soll, die Krieg, Vernichtung und brutale Unterwerfung anderer V;lker als ihren eigentlichen Daseinszweck betrachten, wie dies bei Putins Russland der Fall ist.

«Frieden» eignet sich zudem wie kaum ein anderes Wort f;r den propagandistischen Missbrauch durch Kr;fte, die ganz anderes im Sinne haben als die gewaltfreie Regelung der menschlichen Verh;ltnisse. So gaben sich die Nationalsozialisten in den ersten Jahren ihrer Herrschaft als inbr;nstige Verteidiger des Weltfriedens aus, um die westliche ;ffentlichkeit ;ber ihre wahren Absichten zu t;uschen. Mit ihrer verlogenen «Friedens»-Rhetorik gelang es der NS-Propaganda, den Westen derartig einzulullen, dass er auf rechtzeitige Aufr;stung verzichtete und Hitler die «friedliche» Annexion ;sterreichs, des Sudetenlandes und schliesslich des ;brigen tschechischen Gebiets ungestraft durchgehen liess. Die nur allzu verst;ndliche Sehnsucht der westlichen Demokratien nach Erhaltung des Friedens f;hrte zur Verleugnung und damit zur Vergr;sserung der realen Kriegsgefahr.


Vernebelungsstrategie
Noch konsequenter als das NS-Regime machte der sowjetische Totalitarismus den Ruf nach «Frieden» zum Kernst;ck seiner ideologischen Vernebelungsstrategie. Ob es der Pakt mit Hitler 1939 mit der daraus folgenden Annexion Ostpolens und des Baltikums oder ob es die Niederschlagung der Aufst;nde in Ungarn 1956 und Prag 1968 sowie der Bau der Berliner Mauer 1961 waren – stets gaben die kommunistischen F;hrer ihre Gewaltpolitik als «Friedenssicherung» gegen die vermeintlichen finsteren Kriegsabsichten des westlichen «Imperialismus» aus.

Dementsprechend unterwanderten sie w;hrend des Kalten Kriegs systematisch «Friedensbewegungen» in den westlichen Demokratien. Und in diesem Sinne spekulieren heute Propagandisten Putins von links und rechts nicht ohne Erfolg auf diffuse Kriegs;ngste und pazifistische Reflexe in weiten Teilen der demokratischen ;ffentlichkeit. Demagogisch machen sie den Westen f;r eine drohende «Eskalation» in der Ukraine verantwortlich und unterminieren damit die demokratische Widerstandsbereitschaft gegen Russlands v;lkerm;rderische Aggression.

Daf;r nutzen sie die Meinungsfreiheit aus, die eines der kostbarsten G;ter einer freiheitlichen Demokratie, zugleich aber auch deren Achillesferse ist. Erm;glicht sie es doch den Desinformationsapparaten autorit;rer M;chte, ihre zerst;rerischen Botschaften unter dem Deckmantel der freien Rede in die demokratischen Gesellschaften einzupflanzen. Gegen diesen Missbrauch zeigt sich die ;ffentlichkeit der freien Welt bis jetzt v;llig unzureichend gewappnet.

Heisst das nun aber, dass die pluralistischen Demokratien von ihren liberalen Grunds;tzen abr;cken m;ssten, um sich gegen autokratische M;chte zu behaupten? Im Gegenteil: Die Tendenz zum Nachgeben gegen;ber dem neuen Autoritarismus ist dem schwindenden Bewusstsein f;r den unsch;tzbaren Wert und die ;berlegene Kraft dieser Grunds;tze geschuldet. Auf diese eigene St;rke gilt es sich wieder intensiv zu besinnen. Um den Ansturm des neuen Autoritarismus abzuwehren, m;ssen die liberalen Demokratien nicht nur ihre milit;rischen, sondern auch ihre ideellen Abwehrkr;fte massiv st;rken.


Richard Herzinger lebt als freier Publizist in Berlin. Seit kurzem ist seine eigene Website online: «Herzinger – hold these truths».

 
 
 
 
 
 
132 Kommentare
Wolfgang Krug
vor etwa 6 Stunden
33 Empfehlungen
Das Paradebeispiel f;r westlichen Def;tismus ist Scholz. Er steckt buchst;blich in Putins Tasche. Deutschland: die Z;ge fahren nicht, die Flieger fliegen nicht, die Industrie wandert ab, das Land ist in Liquidation. Dass die Ukraine f;r uns alle den Kopf hinh;lt, begreifen die Zauderer und Angsthasen nicht. Am ver;chtlichsten: Scholz.

J;rg Simeon
vor etwa 6 Stunden
30 Empfehlungen
Danke, ich hoffe etliche Foristen lesen diesen Artikel in der Hoffnung, dass sie ihr Denken, ihre Haltung resp. Nichthaltung erkennen. Die Schw;che der Demokratien ist auch ihre St;rke. Die Demokratien z;gern zuerst, diskutieren, suchen nach L;sungen. Die Diktaturen haben einen Startvorteil, sie befehlen. Man sah dies typisch im zweiten Weltkrieg. Dann aber sind sie im Vorteil, dank der besseren Wirtschaft, Entscheidungen werden breiter abgest;zt. Durch das Internet ist russische Propaganda wirksamer geworden, Trolls selbst bei der NZZ m;glich, die ;ngstlichen eine leichte Beute. Wir haben die Ukraine bis jetzt mit dem kleinen Finger unterst;tzt, es ist h;chste Zeit den Daumen zu aktivieren!

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