Was heisst deutsch zu sein?
Herr Trentmann, sieben Jahre haben Sie an ihrem monumentalen, 900-seitigen Buch ;ber Deutschland und die Deutschen gearbeitet. Haben Sie nun herausgefunden, was deutsch ist?
IM INTERVIEW:
FRANK TRENTMANN
Er wurde 1965 in Hamburg geboren, ist Professor fuer Geschichte am Birkbeck College der University of London und an der Universitaet von Helsinki. Er erhielt u.a. den Humboldt-Preis fuer Forschung der Alexander von Humboldt-Stiftung. Sein Buch „Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute“ wurde 2018 in ;sterreich als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet.
Frank Trentmann: Deutsch zu sein, bedeutet, st;ndig mit moralischen Fragen zu ringen. Die moralischen Themen aendern sich im Laufe der Zeit, aber es gibt ein st;ndiges Tauziehen, und dabei wird aus verschiedenen Richtungen gezogen. Nur wenige Deutsche machen sich gar keine Gedanken ueber Gut und Boese. Ich denke, die Deutschen tragen eine Art Spiegel mit sich herum, in den sie schauen und sich staendig vergewissern wollen, auf dem richtigen Pfad zu sein. Und wenn sie denken, dass sie das nicht sind, dann machen sie sich Sorgen darueber. Andere sind da eher gelassener.
Sie selbst sind in Hamburg geboren und Mitte der 1980er zum Studium nach England gezogen. Heute lehren Sie, nach einer laengeren Station in den USA, als Professor fuer Geschichte in London. Blicken Sie als langjaehriger Expat auf die Deutschen aus einer besonderen Erkenntnisposition?
Sicherlich nehme ich vieles, ueber das ich in meinem Buch schreibe, mit einer Mischung aus Naehe und Distanz wahr. Ich begreife mich als historischer Anthropologe. Das Buch richtet sich dezidiert an ein deutsches wie auch an ein nichtdeutsches Publikum. Es ist teilweise erschreckend, wie wenig etwa die Briten ueber Deutschland und seine Geschichte abseits der Person Hitler wissen. In Deutschland hingegen haelt man vieles aus der eigenen Geschichte unhinterfragt fuer selbstverst;ndlich. Das wird gerade aus einer gewissen Distanz und beim Blick auf einen laengeren Zeitverlauf deutlich. Dabei gibt es so viel Spannendes, was man neu sehen und erzaehlen kann.
„Aufbruch des Gewissens“ ist weder eine unilineare Erfolgsgeschichte noch eine polemische Abrechnung mit den Deutschen. Sie schildern immer wieder auch die Ambivalenzen, Widersprueche und Spannungen der Deutschen im Umgang mit moralischen Fragen. Koennen Sie ein Beispiel dafuer nennen?
Frank Trentmann: „Aufbruch des Gewissens. Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute“. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.;M. 2023, 1.036 Seiten, 48 Euro
Als Startpunkt meiner Studie habe ich den Winter 1942/43 gewaehlt, mit der vernichtenden Niederlage von Stalingrad. Zusammen mit der dann immer umfassenderen Bombardierung der „Heimatfront“ wirft dies fuer eine zunehmende Zahl von Deutschen Fragen auf ueber fruehere Gewissheiten: etwa dass man einen „gerechten Krieg“ kaempft oder diesen letztlich auch gewinnen wird. In dieser nun fuer einen selbst schrecklichen Realitaet beginnen einige Deutsche sich die ersten Gedanken ueber eine moegliche Mitschuld an der Ermordung von Juden, Kriegsgefangenen und Zivilisten zu machen. Andere dagegen ziehen den genau umgekehrten Schluss und fuehlen sich bestaerkt in ihrer paranoiden, antisemitischen Fantasie, dass die Juden angeblich Deutschland vernichten wollen, und fordern selbst ihre totale Vernichtung. Gleichzeitig versuchen alle ein Selbstbild vom eigenen Gut-Sein aufrechtzuerhalten.
Die Adenauer- Aera gilt heute vor allem als graue, biedere Zeit der Restauration. Sie teilen diese Einschaetzung nur zum Teil. Warum?
In den 1950er Jahren gab es auch viele radikale Entwicklungen, in der die moralische Lage des Landes getestet und neu ausgerichtet wurde: Lastenausgleich, Rentenreform und Generationsvertrag, Westorientierung und Wiederbewaffnung und auch die vielen Massendemonstrationen dagegen. Bemerkenswert ist insbesondere, wie Adenauer die mit Israel und der Jewish Claims Conference ausgehandelte „Wiedergutmachung“ durch diplomatisches Geschick nicht nur gegen die Widerstaende der vielen Ex-Nazis und Mitlaeufer durchgesetzt hat. Gegenwind hat Adenauer auch von seinen christdemokratischen Parteigenossen und seinem liberalen Justizminister Thomas Dehler erhalten. Dehler vertrat die Ueberzeugung, dass man moralische Verpflichtungen nicht mit Geld abzahlen koenne. Insgesamt war die Wiedergutmachung ein Schritt von historischer Bedeutung, der die deutsche Verantwortung fuer Verbrechen anerkannte. Sie wurde aber auch als „Blutgeld“ kritisiert und schloss viele Opfergruppen aus. Fuer die deutsche Mehrheitsgesellschaft bot die „Wiedergutmachung“ zudem die Chance, die eigene Mitverantwortung fuer und in der NS-Zeit auf den Staat abzuwaelzen.
Im Ausland galt Deutschland in Bezug auf die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit lange Zeit als vorbildlich – trotz aller Versaeumnisse und der haeufig auch anzutreffenden Doppelmoral. Inzwischen sind jedoch immer mehr Stimmen gerade aus dem linksliberalen Milieu zu hoeren, die den Deutschen einen „Schuldkomplex“ attestieren. Wie ordnen Sie diese Entwicklung ein?
Der postkoloniale Diskurs, aus dem diese Form der Kritik an der deutschen Erinnerungspolitik kommt, hat in Grossbritannien oder in den USA seit Langem eine viel groessere Bedeutung. Es ueberrascht nicht, dass diese Art der Kritik inzwischen auch in Deutschland praesenter geworden ist und ein Licht auf dortige Defizite geworfen hat. Denn in der Tat hinkte die Aufarbeitung der eigenen Kolonialgeschichte in Deutschland lange Zeit weit hinterher und hat noch heute etwa in Schulbuechern keinen angemessenen Platz. Doch diese Defizite kausal darauf zurueckzufuehren, dass die Deutschen zu viel ueber den Holocaust reden, ist geschichtswissenschaftlich und politisch einfach Unsinn. Darueber hinaus sollten wir nicht vergessen, dass man in den heutigen Debatten zu Israel auch in anderen Laendern sehr viel um sich selbst kreist. In Grossbritannien etwa werden aktuell die zivilen Opfer in Gaza von vielen Menschen symbolisch so stark aufgeladen, weil darueber auch der eigene Status in einer multiethnischen und multireligioesen Gesellschaft oder allgemein die Themen Kolonialismus und Rassismus verhandelt werden. Auch woanders gibt es eine Vergangenheit, die in Debatten zu aktuelle Themen nachwirkt.
In ihrem Buch schildern Sie, wie sich gerade in den 1960ern und 70ern viele Deutsche stark fuer die „Verdammten dieser Erde“ in der weiten Ferne interessiert haben – nicht aber fuer den Rassismus gegenueber den sogenannten Gastarbeitern im eigenen Land. Haengt das auch damit zusammen, dass sich die Deutschen so lange nicht als „Einwanderungsgesellschaft“ begriffen haben?
Die Sturheit, mit der so lange an der Illusion festgehalten wurde, Deutschland sei kein Einwanderungsland, ist schon sehr beachtlich. Erst recht auch, weil schon lange vor der Ankunft der sogenannten Gastarbeiter die Gesellschaft von Migration gepraegt war. Bereits um die Jahrhundertwende hatten sich etwa viele Polen gerade im Ruhrgebiet angesiedelt. Allerdings haben sich schon zu Zeiten der Gastarbeiteranwerbung auf lokaler Ebene viele Wohlfahrtsorganisationen und Behoerden staerker fuer Integration und gegen Diskriminierung eingesetzt. Insgesamt beobachte ich in Deutschland noch heute eine Tendenz, das Fremde und Anderssein nicht als Ressource oder Bereicherung zu sehen, sondern vor allem als Problem. Dazu kommt die Haltung, Probleme haeufig nur bei „den anderen“ zu verorten – siehe etwa die Idee eines bloss aus muslimisch gepraegten Laendern importierten Antisemitismus. Im Ausland wird all das wahrgenommen und haeufig als Selbstbezogenheit und mangelnde Oeffnung und Dialogbereitschaft kritisiert.
Im Juli naechsten Jahres wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Einige Monate spaeter finden in Sachsen, Brandenburg und Thueringen Landtagswahlen statt – mit duesteren Aussichten angesichts der hohen Umfragewerte der AfD. Was verraet diese Parallelitaet ueer die Deutschen?
Es gibt eine lange Geschichte von antiliberalen Tendenzen und Mentalitaeten in Deutschland. Damit beziehe ich mich nicht nur auf die DDR, sondern auch auf die Bundesrepublik. An der AfD ist vieles neu, aber sie baut auch auf einem historischen Fundament auf. Dazu gehoeren unter anderem die regionalen Erfolge der rechtsextremen Schill-Partei in Hamburg oder der Republikaner etwa in Bayern. Viele AfD-Positionen wurden in der Zeit vor Merkel von der CDU vertreten. So etwa die Idee einer unerschuetterlichen heterosexuellen „Normalfamilie“, die heute durch den „Gender-Wahnsinn“ bedroht werde. In den sogenannten neuen Bundeslaendern kommt ein tief verankertes Gefuehl der mangelnden Anerkennung und des eigenen Nicht-gehoert-Werdens hinzu. Dort ist das Verstaendnis von Demokratie staerker plebiszitaer und gegen die Eliten gerichtet. Auf den Punkt gebracht wird das durch den Slogan „Wir sind das Volk“. Rueckblickend kann man sagen, dass die Idee, die AfD durch Ausgrenzung zum Einschlafen zu bringen, nicht funktioniert hat. Dafuer braucht es andere Strategien. Erst recht, wenn sie ueber 30 Prozent der Stimmen erhaelt, wie das bei den kommenden Landtagswahlen wahrscheinlich ist.
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